Blog — Einleitungstext der Veranstaltung »Feeling out of Joint? Das Unbehagen an der Affektpolitik« von Bernd Bösel. Der Titel der Vortragsreihe enthält, so viel ist unschwer zu erkennen, mehrere Anspielungen: Zunächst re-zitiert er eine durch Shakespeare bekannt gewordene Wendung, nämlich »being of joint«, was durch Schlegel als »aus den Fugen sein« übersetzt wurde. Es ist sicher nicht notwendig, an die besondere Konstellation in Hamlets Familiendrama zu erinnern – stattdessen soll nur festgehalten werden, dass der Satz »the time is out of joint«, mit dem der 1. Akt der Tragödie endet (übrigens begleitet von einem Fluch von Seiten Hamlets, dass ausgerechnet er dazu auszuersehen wurde, die Zeit wieder einzurichten, sie wieder zu berichtigen), aufgrund seiner allgemeinen gegenwartsdiagnostischen Potenz weit über die dynastischen Verwerfungen des Hauses Dänemark Anwendung fand. Ich erwähne hier nur das dekonstruktive Spiel, das Derrida mit dem Motiv »die Zeit ist aus den Fugen« anstellte, als er sich mit »Marx’ Gespenstern« herumschlug: nämlich einmal in Gestalt des Gespensts des Kommunismus, das von Marx selbst im »Kommunistischen Manifest« zuerst beschworen und dann wieder gebannt wurde, wie auch in Gestalt des Gespensts der historischen Figur Marx. Freilich ließe sich gegen die Überhöhung dieser literarischen Allusion die skeptische Frage einbringen, welche Zeit denn jemals nicht aus den Fugen gewesen wäre. Ist das Aus-den-Fugen-Sein denn nicht der eigentliche Normalzustand, seitdem es so etwas wie Geschichtlichkeit gibt? Und ist dieses Aus-den-Fugen-Sein-der-Zeit nicht umso mehr zum permanenten Ausnahmezustand geworden, seitdem die Technik zum Subjekt der Geschichte wurde, wie Günther Anders es formuliert hat?
Nun, wie auch immer: Die unsrige Zeit ist vielleicht in jeder Hinsicht aus den Fugen, und einer dieser Hinsichten will sich die hiesige Vortragsreihe widmen – daher der Titel »Feeling Out of Joint?«, der sich in seiner Mehrdeutigkeit nicht übersetzen lässt, ohne bereits eine Entscheidung zu treffen. Denn die Frage »Feeling out of Joint?« ist mindestens zweifach lesbar: Einmal könnten Sie sich direkt angesprochen fühlen, so als ob Sie persönlich gefragt wären, ob Sie sich so fühlen, als seien Sie aus den Fugen geraten. Sich aus den Fugen, oder auch aus den Angeln gehoben fühlen, das würde dann vom Bild her in etwa der Metapher des Derangiertseins entsprechen, oder auch des Deliriums, das ja ähnlich haptisch meint, dass etwas aus der Rille gesprungen, modern gesprochen: entgleist sei. Und wer könnte heute schon dagegen setzen, dass das unverständlich oder gar unvernünftig wäre? – Andererseits kann die Frage aber auch so aufgefasst werden, dass »feeling« als Substantiv in Frage steht, also das Gefühl in einem allgemeinen, nicht bloß subjektiven Sinn. Sind die Gefühle aus den Fugen geraten? Angesichts der offensiven Rhetorik bezüglich gefühlter Wahrheiten, aber auch der Schamlosigkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der heute auf Sorgen, Ängste und Ressentiments beharrt wird, wäre das eine vielleicht zutreffende, vielleicht aber auch prekäre Diagnose. Sie rechtfertigte zumindest die Rede von einem »Unbehagen«. Es lässt sich aber die Frageschraube noch ein wenig weiter drehen: Denn bislang wurde so gefragt, als ob völlig klar wäre, was »feelings« sind. Das Gefühl selbst, als Konzept und Phänomen, blieb dabei in den altbekannten psychologischen Fugen. Nun wurde aber in den letzten Jahren gerade das, was wir gemeinhin mit Gefühl und Emotion bezeichnen, von bestimmten Disziplinen (der Philosophie, der Soziologie, den Cultural Studies, den Body Studies, der Humangeographie, um nur einige der vielleicht beredtesten zu nennen), nun ja, aus den Angeln gehoben, aus den Fugen gesetzt, entfügt und wiederum neu verfügt, wenn man so will. Der Begriff oder das Konzept, mit dem dies geleistet wurde und wird, heißt »Affekt«, oder besser noch »affect«, denn der englische Ausdruck leistet mehr, als es der deutsche kann, wird er doch als ontologischer Grundbegriff für die vermeintlich simple Tatsache des Einwirkens von Körpern aufeinander verwendet. Die Emotion oder das Gefühl wird hingegen als eine psychologische und/oder mentale Aneignung, Einhegung und Kodierung eines Affekts durch ein Subjekt aufgefasst – und diese Aneignung, Einhegung und Kodierung bleibt immer unvollständig, sodass »Affekt« oder eben »affect« einen so produktiven wie zugleich unverfügbaren Überschuss markiert.
Wenn im Untertitel der Vortragsreihe von einem »Unbehagen an der Affektpolitik« die Rede ist, dann ist diese affektive Differenz implizit mitangesprochen. Das Unbehagen fängt freilich gerade im Deutschen schon da an, wo mit irgendeiner Form von Gefühl Politik gemacht wird, wo also Gefühle politischen Interessen gemäß verfügt werden – verfügt im Bedeutungsspektrum vom Anordnen bis hin zum Befehlen. Dieses Unbehagen scheint mir nun aber nicht unbedingt geringer zu werden, wenn man statt von Gefühls- oder Emotionspolitik von Affektpolitik spricht – wenn es denn wahr ist, dass Affekte die rein körperliche und präkognitive Seite der Gefühle darstellen. Dazu ein Ergebnis aus einer aktuellen lexikalischen Recherche: Unter dem Schlagwort »Affektpolitik« lassen sich über die deutschsprachigen Bibliothekskataloge bislang nur eine Handvoll Einträge finden (fast alle kommen sie aus der Literatur- oder der Filmwissenschaft, die für die die mediale Vermittlung und Gestaltung von Affekten keine Neuigkeit ist und die, anders als etwa die Kommunikationswissenschaft, die Politikwissenschaft oder die Historie diese Vermittlung auch nicht einfach skandalisieren können). Dagegen erlebt die Wendung »affective politics« gerade einen wahren akademischen Boom, der sich auf zahlreiche Disziplinen und Fachjournale distribuiert.
Wenn man also, wie hier an dieser Stelle nur angedeutet werden konnte, an einer Differenz von Affekt und Emotion oder Gefühl festhält bzw. diese Differenz überhaupt erst einmal einzuziehen gedenkt, dann muss das auch für die Politik gelten – dann lassen sich Affekt- und Emotionspolitik wohl nicht mehr synonym gebrauchen, weil sie jeweils andere Konnotationen mit sich tragen, wenn nicht sogar auf divergierende Phänomene verweisen. Diese Differenz nimmt in der Vortragsreihe daher einen zentralen Platz ein, der sich schon in den Vortragstiteln »Gefühlsordnungen der Unzufriedenheit. Affektpolitiken und Emotionsregime des Dissens« von Veronika Zink sowie »Was Affektpolitik gewesen sein wird« von Markus Rautzenberg widerspiegelt. Der historisch orientierte Vortrag von Pasi Valiaho, »Projection, Passion, Speculation ca. 1700« bringt dagegen mit »passion« einen weiteren Begriff ins Spiel, der zu seiner Blütezeit Anlass für eine liberale Passionspolitik gab, die durch ihr zeitgenössisches Fortwirken eine weitere Variante des Unbehagens grundiert.
Der Text ist die Einleitung der gleichnamigen Vortragsreihe.