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Blog — Beitrag von Bernd Bösel zum affektiven Medium »Straße«
In seinem mit dem Tractatus-Preis ausgezeichneten Essay Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz kommt Roberto Simanowski auf eines der meistdiskutierten Probleme rund um die angeblich kurz bevorstehende Einführung autonomer Kraftfahrzeuge zu sprechen. Es handelt sich um das mittlerweile auch außerhalb der Moralphilosophie einigermaßen bekannt gewordene »Trolley-Problem«, in deutscher Übertragung auch als »Weichenstellerfall« bekannt. Nur kurz zur Erinnerung: Das Gedankenexperiment hat die Unausweichlichkeit eines Unglücks zum Inhalt, bei dem der moralische Akteur nur eine Option hat: nämlich durch die Umstellung einer Weiche – oder das Unterlassen derselben – darüber zu bestimmen, welche bzw. wie viele Personen geopfert werden sollen.
Simanowski arbeitet auf wenigen Seiten heraus, inwiefern die Beantwortung dieses Problems (von dem es natürlich zahllose Varianten gibt) von dem Ethiktypus abhängt, den man grundsätzlich vertritt. Während die vor allem in Europa (und insbesondere in der deutschsprachigen Philosophie) verbreitete Pflichtenethik (Deontologie) sich ganz und gar nach den Prinzipien zu richten versucht, die ein moralisches Subjekt verfolgen muss, um überhaupt als moralisch gelten zu können (allen voran: das Verbot der Instrumentalisierung anderer Personen), ist die insbesondere in der englischsprachigen Philosophie beliebte Folgenethik (Konsequentialismus) sehr viel pragmatischer an den sicheren oder wahrscheinlichen Konsequenzen einer moralischen Entscheidung orientiert. Die Alternative Prinzipientreue oder Utilitarismus entscheidet nun darüber mit, ob Probleme wie dasjenige des Weichenstellers als prinzipiell lösbar erachtet werden. Strikte Deontologen müssen etwa Vorschläge der Art, dass man ja die Opferung einer oder weniger Personen zugunsten der größeren Zahl in Kauf nehmen könne, als strikt unmoralisch ablehnen, weil dann die Wenigen (oder der/die Eine) als Mittel zum Zweck der Rettung der Vielen instrumentalisiert würden.
Zu diesem Ergebnis kam auch die 2016 vom deutschen Verkehrsminister eingesetzte Ethikkommission Automatisiertes und Vernetztes Fahren, die für eine unausweichliche Unfallsituation »jede Qualifizierung nach persönlichen Merkmalen (Alter, Geschlecht, körperliche oder geistige Konstitution)« sowie jede »Aufrechnung von Opfern« strikt untersagt (zitiert nach Simanowski 2020, 25). Somit kommen die laut Selbsteinschätzung der Bundesregierung »weltweit ersten Leitlinien für die Algorithmen automatisierter und vernetzter Fahrsysteme« (BMVI 2017, 2) zu dem Ergebnis, dass die Programmierung von konsequentialistischen Lösungen des Trolley-Problems verfassungswidrig ist. Dazu Simanowski: »Der Gesetzesverstoß liegt in der Vorentscheidung. Denn sie erfolgt, anders als die reflexhafte Reaktion eines menschlichen Fahrers, die kaum als Entscheidung zu bezeichnen ist, mit Bedacht und kaltem Blut.« (Simanowski 2020, 34) Anders gesagt, die Entscheidung im Ernstfall soll und muss dem »situativen individuellen Reflex« (35) der jeweiligen Fahrer*innen überlassen werden. Eher Reflex als Entscheidung: denn die Geschwindigkeit, mit der sich der Ernstfall im Gedankenexperiment abspielt, erlaubt es nicht, mit Bedacht und kaltem Blut darüber zu reflektieren, was jetzt und überhaupt die beste Handlungsweise wäre. Das Blut kocht zu sehr hoch für eine solchen deliberativen Prozess.
Was Simanowski in seinem Essay als menschlichen Reflex bezeichnet, nennt er in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Tractatus-Preises eine »Entscheidung im Affekt« (https://www.philosophicum.com/tractatus/video-preisverleihung-2020, 38:30). Wenn nun die Bundesregierung die kalte Vorentscheidung darüber, wer im Ernstfall geopfert werden soll, so strikt ablehnt, dann wird offenbar die heiße Entscheidung im Reflex oder eben im Affekt zur ethisch-juridischen Norm erhoben. Der Straßenverkehr ist genau der Ort, wo im Ernstfall immer im Affekt entschieden werden muss. Genauer gefasst: Es gibt Situationen, die mit solcher Geschwindigkeit ablaufen, dass nur der Affekt eine Entscheidung bringen kann, wenn man an der Autonomie der Verkehrsteilnehmer*innen festhalten will. Der Affekt rettet gewissermaßen die Autonomie. Es ist dann aber, wie Simanowski zurecht schreibt, eine Entscheidung, die »kaum als Entscheidung zu bezeichnen ist«. Treffender kann man die Unbestimmtheit, die die Ethikkommission hier implizit affirmiert, nicht zum Ausdruck bringen.
Eine solche ethisch-juridische Aufwertung ist dem Affekt bisher selten widerfahren. Mit Genuss zitiert Simanowski noch einen weiteren Kommentar aus dem Bericht der Ethikkommission zum Automatisierten Fahren, demzufolge es Ausdruck menschlicher Autonomie sei, »auch objektiv unvernünftige Entscheidungen wie eine aggressive Fahrhaltung oder ein Überschreiten der Richtgeschwindigkeit zu treffen« (Simanowski 2020, 92). Dass eine deutsche Ethikkommission indirekt zum Ausagieren von road rage ermuntern würde, hätte man sich vermutlich nicht träumen lassen.
Halten wir fest: In der Bundesrepublik Deutschland wird durch den Bericht der Ethikkommission der Affekt im Sinne eines reflexhaften, wohlweislich unüberlegten Reagierens mit der Unausweichlichkeit sich mit hoher Geschwindigkeit abspielender Situationen im Straßenverkehr verquickt. Straße, Geschwindigkeit, Affekt: diese Trias ist Verkehrsteilnehmer*innen insbesondere auf deutschen Autobahnen nur zu gut bekannt. Ich erinnere mich an viele Gespräche unter Österreicher*innen, in denen die erstmalige Auffahrt auf eine deutsche Autobahn zu einer Art Initiationsritual hochstilisiert wurde. Denn in Österreich wird man unweigerlich darauf sozialisiert, die Zahl 130 als absolut höchstes zulässiges Fahrtempo zu verinnerlichen – schnelleres Fahren ist auf öffentlichen Straßen legal nicht möglich (und das hat nicht nur mit den vielbesungenen Bergen zu tun – es gäbe im österreichischen Flachland durchaus Streckenabschnitte, die für schnelleres Fahren freigegeben werden könnten). Die Einsicht, dass Deutschland über Autobahnabschnitte verfügt, auf denen gar keine Geschwindigkeitsbegrenzung gilt, gibt folgerichtig Anlass zu Träumen und Ängsten zugleich. Die Ängste beziehen sich auf die imaginierten Geschwindigkeitsräusche deutscher (oder in Deutschland fahrender) Autofahrer*innen, mitsamt dem aggressiven Fahrverhalten, das mit hohem Tempo schon allein aufgrund des psychophysischen Erregungslevels einhergeht. Die Träume geben umgekehrt der Sehnsucht Ausdruck, sich selbst einmal zumindest ohne Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen dem »Need for Speed« hingeben zu können (um den Titel einer beliebten und langlebigen Videospielserie zu zitieren, der die Trias von Straße, Affekt und Geschwindigkeit unübertroffen zum Ausdruck bringt – andererseits: »Fast und Furious« steht dem nicht weit nach). Bislang findet diese Sehnsucht auch ihre Erfüllung: Erst im Oktober 2019 hat der Bundestag dem von den Grünen eingebrachten Antrag auf Einführung eines Tempolimits von 130 km/h eine deutliche Absage erteilt. Argumentiert wurde die Ablehnung u. a. mit der Sorge vor einer Totalüberwachung der Autobahnen; gewiss spielt aber auch ein gewisser maskulinistischer Stolz eine Rolle, denn bekanntlich dient die deutsche Autobahn als Medium für die Selbstvergewisserung deutscher Ingenieurskunst. Der Wert des deutschen Autos bedarf ja auch einer Bühne für seine Zurschaustellung. Insofern ist der Aussage eines CSU-Abgeordneten, dass es sich in der Frage des Tempolimits um eine »ideologische Forderung« (FAZ 2019) handle, durchaus zuzustimmen, wenn auch in umgekehrter Richtung als vom Sprecher intendiert.
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Die Straße als ein Medium zu betrachten, das ist für die Medientheorie ein altbekanntes Motiv, auch wenn es nicht zu ihren wirkmächtigsten zählt. Immerhin aber hat McLuhan der Straße in Understanding Media ein eigenes Kapitel gewidmet, und bei Paul Virilio wurde sie zu einem der klassischen Chronotopoi (um einen nahezu medientheorischen Begriff Michail Bachtins aufzugreifen) für die Manifestation von Geschwindigkeit und Beschleunigung. Dennoch kommt Walter Seitter noch 2002 in seiner Physik der Medien nicht umhin, festzustellen, dass die Straße für lange Zeit »theoretisch unsichtbar« war und ihre Erkenntnisgeschichte trotz der auch von Seitter gewürdigten Medientheoretiker McLuhan, Virilio und einiger weniger anderer dürftig geblieben sei (Seitter 2002, 130). Originell an Seitters Erörterung des Mediums Straße ist, dass er sie mit dem Begriff der Fluchtlinie von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Verbindung bringt und zudem einen »Absentierungsimperativ« geltend macht (140): Bedingung für die Benutzung einer Straße sei, dass man sich auf ihr fortbewegen müsse; anders gesagt, wer auf eine Straße gerät, muss glaubhaft machen, dass er sich auf ihr anderswohin bewegt, andernfalls er polizeilichen Maßnahmen unterzogen werde. Einmal mehr erlaubt die Straße gerade nicht jenes Innehalten, das für die freie Deliberation notwendig wäre. Ganz im Gegenteil: Sie erzwingt Bewegung und damit eine Mindestgeschwindigkeit. Dass in den Straßenverkehrsordnungen nicht nur Höchst-, sondern eben tatsächlich auch Mindestgeschwindigkeiten festgelegt sind, bindet dieses Grundprinzip des Sich-Fortbewegen-Müssens an eine pragmatisch festgelegte, dann aber eben auch rechtsverbindliche Tempoangabe.
Damit ist aber freilich nicht alles gesagt, was über die Straße als Medium gesagt werden muss. Denn gerade in der letzten Jahren wurde die Straße als Chronotopos einer ganz anderen Performativität als derjenigen des Sich-Fort-Bewegens gewürdigt. Gerade im langsamen, kollektiven Abschreiten und sogar Blockieren einer Straße, etwa im Rahmen von Demonstrationen und Kundgebungen, wird diese andere Performativität sinnfällig. Judith Butler hat sich in ihren Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung zum Gefühl einer »freudigen Erregung« bekannt, die mit der »Vorstellung von Körpern, die gemeinsam auf die Straße gehen« hochkommt (Butler 2016, 164). Zugleich äußerst sie aber Zweifel daran, ob diese freudige Erregung per se gerechtfertigt ist, wenn man sich als progressive linke Theoretiker*in versteht. Denn es ist ja klar (und dennoch muss Butler in ihrem Text daran erinnern), dass es kein linkes Privileg oder Alleinstellungsmerkmal ist, sich auf der Straße versammeln und über die erregenden Affekte der Vergemeinschaftung jubeln zu können (was in Zeiten der regelmäßigen Demonstrationen von Corona-Leugner*innen und Rechtsradikalen noch klarer sein dürfte als zur Zeit der Abfassung von Butlers Anmerkungen). Anstatt dem Affekt das Argument zu überlassen, fordert Butler dazu auf zu fragen, »welchen gefühlten Sinn von Ungerechtigkeit und Unlebbarkeit« die sich versammelnden, wogenden Gruppen teilen und »welche Anzeichen der Möglichkeit des Wandels ihr Gemeinschaftsgefühl stärken« (177). Anders gesagt: sie fordert eine Analyse der Affekte der sich auf der Straße Versammelnden – eine Straßenaffektanalyse, wenn man so will – und nicht alle dieser Affekte bzw. die aus ihnen erwachsenden Forderungen stehen mit demokratischen Prinzipien im Einklang. Dennoch hält sie in ihrer Auseinandersetzung mit den Protesten vom Kairoer Tahrir-Platz fest, dass manchmal gerade deshalb eine Revolution entsteht, »weil alle sich weigern, nach Hause zu gehen, und auf der Straße als dem Ort ihrer konvergenten und temporären Kohabitation ausharren« (132).
Es gibt also quer zu jenem Absentierungsimperativ, den Seitter stark gemacht hatte, auch ganz andere Performativitäten als die des bloßen Sich-Fortbewegens. Man kann sich auf der Straße auch bewusst zur demonstrativen Unterbietung des Mindesttempos entschließen, bis hin zum Stillstehen und Verweilen, das je nach Dauer zur temporären Kohabitation führen kann, von der Butler spricht. Man muss übrigens an dieser Stelle zumindest anerkennen, dass es auch unfreiwillige Formen der Kohabitation auf der Straße gibt – gemeint ist natürlich die Obdachlosigkeit, das »auf der Straße leben«, das in den härtesten Fällen zu einer nicht bloß temporären, sondern permanenten Kohabitation führt und das gewiss mit ganz anderen Affekten einhergeht als die Versammlung auf der Straße aus politischen Gründen.
Trotz dieser diskursiven Vorsichtsmaßnahmen wird mit Butler deutlich, dass das affektive Medium Straße glücklicherweise nicht auf Aggression, Hass und Ausgrenzung festgelegt ist. Die von der Ethikkommission des Verkehrsministeriums eingeräumte Freiheit zu »aggressivem Fahrverhalten« muss nicht das letzte Wort haben. Umsichtiger wäre es da schon, jenen Autonomiebestrebungen stattzugeben, die gerade gegen die maskulinistische road rage und gegen motorisierte Gewalt auf ein anderes Genießenkönnen des Straßengebrauchs setzt. Gemeint ist beispielsweise »die affektive Kraft des Radfahrens«, die Julia Bee zufolge zu ihrer freieren Entfaltung eine »Umverteilung von Straße« erforderlich mache (Bee 2018). Darüber hinaus lässt sich die Straße als ein unersetzbarer Schauplatz für jenes spontane und immersive Theater verstehen, das schon Henri Lefebvre (2014) im Sinn hatte: mit all ihrem Chaos, ihrem Lärm, ihrer Aufdringlichkeit, aber eben auch den unvorhersehbaren Begegnungen, Spektakeln – und machmal auch Freuden. Die Straße ist eben nicht nur der Ort, wo ein Trolley auf einen zukommt und man schnell mal entscheiden muss, ob man den Schalter umlegt, den eine unerklärliche Kontingenz einem in die Hand gedrückt hat.
Quellen:
Bee, Julia (2018): »Lob des Fahrradfeminismus«, in: Gender-Blog der Zeitschrift für Medienwissenschaft, https://www.zfmedienwissenschaft.de/online/blog/lob-des-fahrradfeminismus (aufgerufen am 31.10.2020).
BMVI (2017): Maßnahmenplan der Bundesregierung zum Bericht der Ethik-Kommission Automatisiertes und Vernetztes Fahren. Berlin: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Butler, Judith (2016): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin: Suhrkamp.
FAZ (2019): »Bundestag lehnt Tempolimit auf Autobahnen klar ab«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2019, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/abstimmung-im-bundestag-kein-tempolimit-auf-deutschen-autobahnen-16438596.html#void (aufgerufen am 31.10.2020).
Lefebvre, Henri (2014): Die Revolution der Städte. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Seitter, Walter (2002): Physik der Medien. Materialien – Apparate – Präsentierungen. Weimar: VDG.
Simanowski, Roberto (2020): Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz. Wien: Passagen.